AGdD-Austauschforum
Dekoloniales Handeln in der Entwicklungszusammenarbeit
Über 50 Rückkehrer*innen aus dem Entwicklungsdienst folgten unserer Einladung zum Austauschforum ‚Entwicklungsdienst hinterfragt – Persönliche und dekoloniale Perspektiven auf den (eigenen) Einsatz‘ nach Bonn – ein Wochenende voller kritischer Fragen, starker Impulse und wichtiger Erkenntnisse.
Der Entwicklungsdienst ist für viele Fachkräfte eine bereichernde Zeit und gleichzeitig verbunden mit herausfordernden Erfahrungen. In einem Pilotprojekt hat die AGdD vom 01.09. bis zum 02.09. dazu eingeladen, mit Offenheit und Mut auch die weniger positiven Aspekte des Entwicklungsdienstes zu betrachten und zu reflektieren. Gemeinsam haben wir uns auf die Suche nach Potentialen gemacht, die wir für eine kraftvolle und konstruktive Veränderung von Strukturen und individuellen Denkmustern benötigen. Besonders im Vordergrund stand die Frage, wie in diesem Kontext dekoloniales Handeln aussehen kann.
„Europe has a big mouth and small ears“
Der Auftaktabend in der Brotfabrik in Bonn stand im Zeichen von offenem Austausch, Kennenlernen und Netzwerken. Starke Impulse setzte dabei Policy Advisor Valerie M. Viban aus Kamerun, der als Süd-Nord-Fachkraft, vermittelt von AGIAMONDO, bei der Deutschen Kommission Justitia et Pax in Berlin im Einsatz ist. In seinem Vortrag erzählte er von Kamerun unter deutscher, dann britischer und schlussendlich französischer Kolonialherrschaft, die zwangsweise in eine kollektive Identitätskrise geführt habe, die bis heute andauere. Der Begriff „Decolonization“ sei nicht neu, er wurde bereits in den Unabhängigkeitsbestrebungen afrikanischer Staaten in den 50er und 60er Jahren genutzt. Alles, was danach kam, war „Postkolonialism“. Dass nun „Decolonization“ als Begriff und Politikum wiederkommt und in die ehemaligen Kolonialmächte einwirkt, sei ein Zeichen der Hoffnung … Ein Fakt, der aufhorchen ließ: Es befänden sich immer noch ca. 40.000 Objekte aus Kamerun in Deutschland, Raubkunst und Diebesgut. Eine Rückgabe sei moralische Pflicht, was danach mit den Objekten passiere, gehe Deutschland prinzipiell nichts an. „It’s about justice.“ Unterdessen seien für Valerie Viban die „lessons learned“ in Deutschland, dass für ein faires, internationales Miteinander eine stärkere und bessere internationale Zusammenarbeit nötig sei. Dabei müsse Europa aber lernen, zuzuhören und weniger zu reden. „Europe has a big mouth and small ears.“
„Ein vibrierendes Feld“
Im Mittelpunkt des Austauschforums am folgenden Tag in Bonn standen die persönlichen Geschichten und Erfahrungen der Rückkehrer*innen aus dem Entwicklungsdienst, die Verbindung zueinander, die Begegnung, aktives Zuhören und Zusammenarbeit. Die Teilnehmenden diskutierten offene Fragestellungen zum eigenen Dienst: Wofür hat es sich gelohnt? Wo musste ich mich hinterfragen? Wo bin ich an meine Grenzen gekommen? Wie habe ich mich verändert? Was habe ich mitgebracht? Moderatorin Anne Beer führte die Ergebnisse immer wieder zusammen, so dass vorhandenes Wissen gehoben und neue Inspirationen gefunden werden konnte. Bereits am Vorabend konstatierte Anne Beer, die persönlichen Geschichten rund um den Entwicklungsdienst und das Thema Dekolonisation sei „ein vibrierendes Feld“ mit großem Erfahrungsschatz und Redebedarf.
Koloniale Kontinuitäten und white saviors
Am Nachmittag setzte Antirassismus-Trainerin und Postkolonialismus-Forscherin Sheyma Arfawi in ihrem Beitrag „Koloniale Kontinuitäten und postkoloniale Perspektiven“ wichtige und spannende fachliche Impulse. Dazu gehörten ein kurzer Abriss der deutschen Kolonialgeschichte, verblüffende und zum Teil verstörende koloniale Kontinuitäten von 1919 bis heute, diskurskritische Analysen, Definitionen von Kolonialismus, Rassismus, Macht und Definitionsmacht, vom politischen „weiß sein“, von weißen Privilegien und dem ‚white savior complex‘ sowie interaktive Elemente mit Raum für Diskussion, Fragen und Zuhören. Zum Ende des Workshops waren alle Teilnehmenden in einer Community-Simulation aufgerufen, in wenigen Worten Elemente und Schritte für eine dekoloniale Entwicklungszusammenarbeit zu formulieren. Gefunden wurde: Miteinander reden, Revolution, Verbundenheit, Gerechtigkeit, Umbruch, Ganzheitlichkeit, Geduld, aber auch Ungeduld, Diversität, Antifaschismus, Pluriversum.
Zum Ende des Austauschforums rief Anne Beer zu einer „Was wäre, wenn … -Simulation“ auf und ermutigte, Träume zu wagen. Die Teilnehmenden fragten sich u. A., was wäre, wenn unsere Kinder in einer mitmenschlichen Welt aufwachsen würden? Wenn es Machtstrukturen gäbe und keiner sie ausnutzen würde? Wenn bei Bewertungen und Urteilen die Hautfarbe keine Rolle spielen würde? Wenn Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit den Ländern bedingungslos zur Verfügung gestellt würden? Wenn allen Ländern alle Schulden erlassen würden? Wenn noch viel mehr Süd-Nord-Fachkräfte in Deutschland im Einsatz wären?
Wir sagen Danke
Das AGdD-Team ist immer noch überwältigt von der hohen Nachfrage und dem außerordentlichen Engagement aller Teilnehmenden. Großer Dank gilt Valerie Viban für seine wichtigen Perspektivwechsel, Sheyma Arfawi für ihre inspirierende Arbeit sowie allen Rückkehrer*innen für Ihre Offenheit und Ihren Mut. Besonderer Dank gilt Anne Beer, die mit großer Sensibilität und methodischem Knowhow dieses AGdD-Pilotprojekt zu einem erfolgreichen Austauschforum hat werden lassen. Dabei hat sich erneut gezeigt: Entwicklungsdienst wirkt lange nach – es braucht nur die richtigen Kanäle, dies sichtbar zu machen. Dem einhelligen Wunsch nach einer Fortsetzung des Austauschforums möchten wir gerne nachkommen.