Brücken bauen zwischen Staat und Gesellschaft in Kolumbien
Von Simone Dengler
Als ich 2017 meine Masterarbeit mit dem Thema International Peace Education in Prison schrieb, bin ich auf die Arbeit von Prison Fellowship Colombia (PFC) gestoßen und habe mich sodann entschieden, die gemeinnützige Organisation vor Ort kennen zu lernen und meine Tätigkeit als Bewährungshelferin in Deutschland zunächst aufzugeben.
Aus einem sechsmonatigen freiwilligen Praktikum, welches über das Seehaus e.V., einem Partner von PFC, organisiert werden konnte, wurde dann – auf Anfrage von PFC – eine Entsendung in die Entwicklungszusammenarbeit durch Christliche Fachkräfte International (CFI, heute Coworkers) für 2,5 Jahre nach Medellín.
Während des Praktikums wurde ersichtlich, wie sehr sich PFC für Soziale Gerechtigkeit für Gefangene und ihre Angehörige einsetzt und in ihrer täglichen Arbeit auch sehr auf die internationale Zusammenarbeit angewiesen ist. Ohne die internationalen Geldgeber, wie z.B. die Hoffnungsträgerstiftung, könnte PFC die Arbeit nicht in diesem Umfang leisten.
PFC hat derzeit zehn Programme innerhalb und außerhalb vom Gefängniskontext, die von ca. 1.500 Volontär*innen und ca. 100 angestellten Mitarbeitenden im ganzen Land durchgeführt werden. Ich gewann schnell den Eindruck, dass PFC eine gewaltige Arbeit leistet, aber leider kaum von nationalen Partnern unterstützt wird. Dies ist allerdings auch auf die kolumbianische Geschichte zurück zu führen. Aufgrund von Korruption, politischer Spaltung und des jahrelangen Bürgerkrieges herrscht viel Misstrauen im Land.
Somit war meine Motivation für den Entwicklungsdienst und auch eines der Projektziele, die Zusammenarbeit zwischen der NGO PFC und dem kolumbianischen Staat zu stärken.
Umsetzung von Opferempathie-Programmen
Im ersten Jahr durfte ich zunächst lernen, wie wichtig Opferempathie-Programme in den extrem überfüllten Gefängnissen sind. Ich sollte dann das Programm, welches Täter*innen hilft, sich in die Lage ihrer Opfer reinzuversetzen, strukturell weiterentwickeln. Das Programm wurde in elf Gefängnissen landesweit umgesetzt. Dabei war es unabdingbar, eine gute Kooperation mit der lokalen Gefängnisverwaltung, den Vollzugsbeamten und u.a. auch mit Menschenrechtsorganisationen aufrecht zu erhalten und einen Austausch zu ermöglichen. So konnten wir gemeinsam an dem Ziel der Resozialisierung arbeiten, auch trotz vieler bürokratischer Hürden.
Nach der erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung bei der Generalstaatsanwaltschaft in der Hauptstadt Bogotá in Justicia Restaurativa (sp. zu dt. „Ausgleichende Justiz“/engl. Restorative Justice), wurde ich im Jahr 2019 sodann mit der Aufgabe betraut, ein Pilotprojekt im Bereich Täter-Opfer-Ausgleich für Jugendliche aufzubauen, welches zunächst von der schwedischen Organisation Swedish Mission Council (SMC) finanziert wurde und nach drei Jahren vom kolumbianischen Staat übernommen werden soll. Dabei war es mir von Anfang an wichtig, ein Netzwerk von nationalen und auch internationalen Stakeholdern aufzubauen, um von deren Erfahrungswerten lernen zu können.
Als neu zusammengestelltes Team für das Jugendprogramm veranstalteten wir zunächst einige Runde Tische mit Entscheidungsträgern wie dem Jugendamt, der Staatsanwaltschaft, Richtern, Anwälten und Universitätsprofessoren im Bereich Recht, Psychologie und Sozialer Arbeit. Es wurde daraufhin deutlich, dass allseits großes Interesse besteht, allerdings fehlte es bisher an lokalen Ressourcen, um in diesem Bereich gemeinsam tätig werden zu können. Dank des Entwicklungsdiensts und der Unterstützung durch SMC konnten wir die nötigen Ressourcen aufbringen, was die Beteiligten, vor allem die Staatsanwaltschaft, sehr schätzte.
Strukturen für einen Täter-Opfer-Ausgleich für Jugendliche
Da alle aus unterschiedlichen Fachbereichen kamen, organisierten wir einen Lehrgang, der uns und weitere Interessierte auf denselben Wissensstand bringen und auch eine Austausch-Plattform schaffen sollte. Dabei erkannten wir, dass es bisher kaum staatlich geschaffene Strukturen für einen Täter-Opfer-Ausgleich für Jugendliche gibt, auch wenn die rechtlichen Grundlagen vorhanden sind. So entwarfen wir im Team von PFC innerhalb kurzer Zeit einen eigenen Leitfaden und schlossen eine Vereinbarung mit der lokalen Staatsanwaltschaft für ein Pilotprojekt. Die ersten vier Pilotfälle durchliefen erfolgreich den von uns erarbeiteten 3-4-Monats-Prozess, bei welchen sodann eine außergerichtliche Einigung gefunden wurde.
Um jedoch weitere Fälle zugewiesen zu bekommen, musste mehr Aufklärungsarbeit geleistet und eine staatlich anerkannte Lizenz beantragt werden. So wurden wir beauftragt, mehrere Vorträge bei Fortbildungen für beispielsweise Staatsanwälte und Richter zu halten, da viele mit dem Thema in der Vergangenheit kaum in Berührung kamen. Sodann wurden wir auf nationale und internationale Kongresse eingeladen, um auch dort die ersten Ergebnisse zu präsentieren. Dabei erhielten wir wertvolle Materialien aus der Arbeit im Bereich Täter-Opfer-Ausgleich aus u.a. Spanien, Argentinien und den USA.
Fast zeitgleich veröffentlichte das kolumbianische Justizministerium ein ausführliches und wissenschaftlich erarbeitetes Handbuch über die gesetzlich verankerte Umsetzung der restaurativen Prozesse in Kolumbien. Über Kontakte durften auch wir als Team an einer dieser Fortbildungen teilnehmen und konnten dadurch unser Konzept anpassen und schließlich die staatliche Finanzierung des Programms beantragen. Leider steht die Genehmigung bisher noch aus.
Globale Partnerschaft zum Nutzen aller Beteiligten
Globale Partnerschaft heißt für mich, grenzüberschreitende Verbindungen zu schaffen, zum gegenseitigen Nutzen aller Beteiligten. In diesem Fall war es ein Vorteil, eine neutrale Person aus dem Ausland zu sein. Dadurch konnte ich schnell Kontakte knüpfen, die für Einheimische manchmal nur schwer erreichbar sind. Doch dann war es nach der Pilotphase auch wichtig, die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden und die Programmleitung so schnell wie möglich an eine lokale Mitarbeiterin zu übertragen, sodass das Gefühl von Ownership (Eigentümerschaft) entsteht.
Während der Tätigkeit im Entwicklungsdienst stellte ich zudem fest, wie stark doch der Handlungsbereich des Staates von dem der Gesellschaft gespalten ist, und wie schwierig hierbei auch Kooperationen sind - und das nicht nur in Kolumbien. Auch in Europa und Deutschland scheint es manchmal eine große Herausforderung zu sein, die Interessen der Zivilgesellschaft und des Staates auf einen gemeinsamen Weg zu bringen. Entwicklungszusammenarbeit ist demnach überall da notwendig, wo sich Menschen weiterentwickeln wollen. Der Entwicklungsdienst trägt meines Erachtens dazu bei, solidarisches Engagement zu fördern und verschiedene Interessen sowohl des Staates als auch der Gesellschaft zu vertreten und zusammen zu bringen. So können wir Brücken bauen, um folglich die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu erreichen.
Diese Erfahrung der Vernetzungsarbeit nahm ich dann sehr dankbar auch wieder nach Deutschland mit. Nun werde ich mich auch hier, wieder in der Rolle der Bewährungshelferin, bemühen, ein gegenseitiges Verständnis zwischen Gesellschaft und Staat zu schaffen, um so gemeinsam zu lernen und voranzukommen.