Perspektiven verstehen in Israel und Palästina
Partnerschaft ist Friedensressource
Von Raphael Nabholz
Wer über die vielen Konflikte in unserer Welt nachdenkt, kann leicht zu dem Schluss kommen, Partnerschaft sei zwar schön und gut, aber bleibe doch eine Art unerreichbarer Vision. Zu sehr verhindern Macht- und Ressourceninteressen eine Begegnung auf Augenhöhe. Zu groß scheint die Gier, und der Bezug auf die eigenen Interessen verschließt den Blick auf das Wesentliche, auf grundlegende Werte und Rechte.
An kaum einer anderen Stelle wird dies so deutlich wie am Konflikt zwischen Israel und Palästina, einem der wohl schwierigsten und langanhaltendsten Konflikte unserer Zeit. In meiner Zeit als Friedensfachkraft habe ich tagtäglich erlebt, wie hoch Mauern zwischen Menschen sein können – und wie fremd das Konzept ‚Partnerschaft‘ für Menschen sein kann. Zwei Gesellschaften, die eine noch immer in der Verarbeitung des kollektiven Traumas der Shoa – und die andere, geprägt durch eine nun mehr als 60 Jahre andauernde Besatzung und die fehlende Anerkennung durch ihr Gegenüber, haben so viel Leid, Gewalt und Ungerechtigkeit erlebt, dass sie im Anderen, im Gegenüber oft nur eine Bedrohung wahrnehmen können. „Es gibt keinen Partner auf der anderen Seite.“ Diesen Satz gibt es immer wieder auf beiden Seiten zu hören.
Und in der Tat – Raketen, Checkpoints, Mauern, Anschläge und andere Gewalttaten machen es nicht leicht, an Partnerschaft zu denken. Doch es geht – das zeigt eine zwar kleine, dafür aber umso aktivere Zivilgesellschaft, die Partnerschaft ernst nimmt. In meiner Partnerorganisation, den ‚Combatants for Peace‘ wird deutlich: Ehemalige israelische Soldat*innen und palästinensische Widerstandskämpfer*innen, Menschen, die sich jahrelang an der Front feindlich gegenüberstanden, arbeiten jetzt zusammen und versuchen ihrer jeweiligen Gesellschaft zu vermitteln, dass sich durchaus zusammenarbeiten lässt, ja das dadurch Leben nicht nur bunter, sondern auch sicherer wird.
Sich auf Augehöhe begegnen
Von meiner Ausbildung her bin ich Sozialarbeiter. In meinem Studium habe ich gelernt, dass es zur Lösung von Konflikten vor allem eines braucht: Empathie. Und dass Gewalt nur ein Symptom ist. Die Ursachen des Konfliktes liegen meist jedoch tiefer. Mangelndes Vertrauen, Vorurteile und eine tiefsitzende Angst führen zu Egoismus und der Entstehung von Ungerechtigkeit. Genau dort setzten die ‚Combatants for Peace‘ an und beginnen jede Begegnung mit ihrer eigenen Geschichte. So zum Beispiel der Palästinenser, der zwei Israelis mit einem Messer angegriffen hat oder der Israeli, der den Befehl gab, ganze Häuserblocks im Gazastreifen zu bombardieren. Diese Gespräche sind erschütternd, sie erzeugen Wut, Traurigkeit, Sprachlosigkeit.
Doch in den Begegnungen geschieht etwas Besonderes. Sich auf Augenhöhe begegnen, den/die Andere/n ernst nehmen und ihn oder sie dadurch als Menschen wahrnehmen. Gemeinsam ist den Aktiven aus beiden Gesellschaften ihre Erfahrung, dass die Gewalt zu nichts geführt hat, keine Genugtuung verschafft, und dass sich das Leben dadurch auch nicht verbessert hat. Wer jedoch kooperiert, sich gemeinsam für etwas einsetzt und seinen Alltag teilt, erlebt, dass Vertrauen entsteht und das Sicherheit-schaffende Gefühl, nicht alleine zu sein.
Der Wunsch nach Partnerschaft und Versöhnung
Mit 18 Jahren bin ich als Zivildienstleistender nach Israel gegangen. Ich wollte mehr erfahren über dieses kleine Land, das aufgrund unserer Vergangenheit so sehr mit meinem Land in einer fast paradoxen Weise verbunden ist. Was ich nur aus den Geschichtsbüchern und den Fotos in Gedenkstätten kannte, wurde in vielen Begegnungen in Israel Realität. Nie vergessen werde ich die Begegnung mit einer Frau, sie hatte die Shoa überlebt – ihre eintätowierte Nummer erinnert für immer daran.
Einige Jahre später, in meinem Sozialarbeitsstudium bin ich dann im Rahmen meines Studiums auf die andere Seite, in das palästinensische Westjordanland, gewechselt. Und auch diesmal wurde zur Realität, was ich bis dato nur aus Zeitungen, vom Hörensagen während meiner Zeit in Israel kannte. Tagtägliche, scheinbar willkürliche Festnahmen von Palästinenser*innen, manchmal sogar Kindern. Militärcheckpoints, Tränengas, Anschläge, Folter und Armut.
Lange Zeit konnte ich mir keinen Reim darauf machen, warum mich all dies so beschäftigt. Warum mich, Deutscher, geboren in den 80er Jahren in Westdeutschland, der nie Krieg oder Armut erleben musste, diese Region nicht loslässt. Heute glaube ich, es ist der Wunsch nach Partnerschaft und Versöhnung.
„So etwas darf nie wieder geschehen, Krieg ist Teufelszeug“ – sagte mir damals die ältere Dame, die den Völkermord der Deutschen an den Juden überlebt hatte. Und „Danke, dass Du hier bist. Wir brauchen euch, die Jugend!“, sagte sie zu mir, einem Bürger jenes Landes, das sie und ihre Familie vernichten wollte. Und da wurde mir klar, dass man Israel, Palästina und Deutschland nur zusammen denken kann. Das eine lässt sich nur mit und durch den je anderen verstehen.
Begegnungen machen die einzigartige Partnerschaft im Entwicklungsdienst aus
Als mich dann vor fünf Jahren über AGIAMONDO (damals noch AGEH) die Anfrage der ‚Combatants for Peace‘ erreichte, für sie und mit ihnen als Friedensfachkraft zu arbeiten, zögerte ich keine Sekunde. Die ersten Monate war es vor allem das Zuhören, das meine Arbeit prägte. Menschen kennenlernen, Kontexte verstehen lernen, begreifen, dass es einen Unterschied macht, sich die Reden und Interviews der Politiker*innen anzuhören, oder direkt mit den Menschen in Kontakt zu sein. Menschen, die der Gewalt und Ungerechtigkeit, aber auch der Hoffnung und Zuversicht ein Gesicht geben.
Als Fachkraft im ‚Zivilen Friedensdienst‘ darf ich das Privileg leben, Teil der Gemeinschaft zu werden. Häufig verschwimmen die Grenzen zwischen Privatem und Beruflichem. Und oft sind es die Begegnungen abseits der direkten Projektarbeit, die diese einzigartige Partnerschaft im Entwicklungsdienst ausmachen. „Du warst für uns ein Übersetzer, durch dich haben wir die andere Seite verstanden“ – Das wohl schönste Kompliment, dass ich von den ‚Combatants for Peace‘ zum Abschluss meiner ZFD-Zeit bekommen habe.
Und zugleich habe ich auch von meinen Partnern und Partnerinnen – Christen, Juden und Muslimen, Männer und Frauen – für mich viel gelernt. Heute sehe ich unsere deutsche Gesellschaft mit anderen Augen, finde Ansätze für die Bewältigung unserer Probleme, zum Beispiel Rassismus und Antisemitismus, aber auch für die globalen Zusammenhänge, bei denen wir häufig vergessen, dass der Kolonialismus nicht vorbei ist.
Perspektivenwechsel zwischen Deutschland, Israel und Palästina – das ist mein Credo (geworden). Jeder trägt mit seiner Geschichte, seinem Hintergrund und seinem Erfahrungsschatz dazu bei, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen besser zu verstehen und daran zu arbeiten, dass sich Menschen nicht mehr bekriegen, sondern gemeinsam für eine Welt arbeiten, in der jeder und jede gleichberechtigt leben kann. Durch Partnerschaften auf Augenhöhe, wie sie in der personellen Zusammenarbeit entstehen, richtet sich der Blick vor allem auf diejenigen, die sonst zurückgelassen werden. Im Kleinen, also in der Begegnung von Menschen, bis hin in die großen, globalen Zusammenhänge.