Interview

„Solche interkulturelle Kompetenz kann man sich nicht anlesen, die muss man sich erleben."

Reiner Haus ist gemeinsam mit seiner Frau Heidi von 2015 bis 2020 für Coworkers – CFI nach Jordanien ausgereist. Lokale Partnerorganisation war eine Nazarener-Gemeinde, die ein Flüchtlingshilfswerk betreibt. Er hat dort in deren Einrichtungen in Amman und Mafraq an der syrischen Grenze und in dortigen Flüchtlingslagern gearbeitet.

Schwerpunkte waren die Diagnostik und die Therapie von traumatisierten und entwicklungsverzögerten Flüchtlingskindern sowie die Ausbildung von lokalen Fachleuten im Bereich der Entwicklungsrehabilitation und trauma-therapeutischen Versorgung.

Reiner Haus lebt heute in Dortmund und arbeitet an der Universität Dortmund.

Herr Haus, welche Motive und Impulse haben zu Ihrer Entscheidung für den Entwicklungsdienst geführt?

Ich hatte vorher bereits langjährige Auslandserfahrung, da ich in Lettland einen Modellstudiengang „Musiktherapie“ gegründet und 17 Jahre geleitet habe und dort auch am landesweiten Aufbau einer rehabilitativen und therapeutischen Versorgung beteiligt war. Somit war unsere Familie seit vielen, vielen Jahren auch lettisch sozialisiert. Als die Kinder dann ihre eigenen Wege gingen, haben meine Frau und ich überlegt: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Es war für uns die richtige Gelegenheit, dem inneren Ruf zu folgen und uns in einem Land zu engagieren, wo Hilfe gebraucht wird und wo wir etwas beitragen können. Und zwar jenseits der üblichen Karrierewege.

Den entscheidenden Impuls gab dann 2014 das Eintreffen der Flüchtlinge aus Syrien hier in Deutschland und die Flüchtlingssituation in den syrischen Nachbarländern. Wir haben das Jahr 2014 genutzt, um in einer Dortmunder Erstaufnahmeeinrichtung Beziehungen zu geflüchteten syrischen und irakischen Familien aufzubauen. 2015 sind wir dann nach Jordanien ausgereist.

Warum ein haben Sie sich für eine christliche Entsendeorganisation entschieden?

Wir sind mit Coworkers/CFI, einem christlichen Träger, nach Jordanien gegangen, weil uns deren Konzept der Arbeit mit kleinformatigen an der Basis befindlichen Einrichtungen im Einsatzland sehr gut gefiel. Wir konnten uns so direkt an der Basis einbringen. Und dann passte für uns auch die christliche Glaubenshaltung, da diese auch unserem inneren Ruf aus unserer persönlichen christlichen Überzeugung entsprach.

Reiner Haus hat in Jordanien mit traumatisierten Kindern gearbeitet.

Wie haben Sie und Ihre Frau den Abschied aus Jordanien und die Rückkehr nach Deutschland erlebt?

Wir sind Mitte 2020 zurückgekehrt, also mitten in der ersten Pandemiewelle. Und das war sicherlich nicht optimal, denn es hat den wichtigen Prozess des Sich-Verabschiedens und der Übergabe erheblich erschwert oder vielmehr unmöglich gemacht. Aus dem Grund sind wir ein Jahr später noch einmal nach Jordanien gereist, um die Übergabe der Strukturen, die wir dort in der Ausbildung/Lehre und in der therapeutischen Betreuung aufgebaut haben, an kompetente Nachfolger sicherzustellen.

Das Rückkehren war für uns nach den fünf Jahren auch deshalb sehr schwierig, weil wir die völlig andere Art, wie man in einem arabischen Land kommuniziert, sehr in uns aufgenommen und geschätzt haben: Die Menschen begrüßen sich und tauschen sich viel mehr mit Bezug auf die persönliche Ebene und auch mit einem Gottesbezug aus. Nicht nur, wenn man im privaten Kontakt ist, sondern auch in geschäftlichen oder administrativen Situationen. Die Trennung zwischen sozialem Privatleben, das natürlich in Deutschland auch sehr beziehungsreich ist, und dem Geschäftsleben oder dem Dienstleistungsbereich – diese Kluft kennt man so in Jordanien nicht. Und das macht einen großen Unterschied – sowohl in der privaten wie in der öffentlichen Kommunikation. Insgesamt schätzen wir natürlich die deutsche Kultur und die Qualität der Dienstleistungen hierzulande - dennoch war die Rückkehr nicht einfach.

Und meiner Frau, die mitreisende Partnerin (MAP) während meines Entwicklungsdienstes war, ist sie noch wesentlich schwerer gefallen als mir. Für mich war hilfreich, dass ich beruflich sofort wieder eingestiegen bin, was dann vieles glättet. Aber für meine Frau, die sich nach der Rückkehr erst einmal etwas Zeit nehmen wollte, war das eine schwierige Übergangszeit.

Wie hat sich Ihre berufliche Rückkehr gestaltet?
Meine Ausreise hat im beruflichen Umfeld an der Hochschule bei vielen schon Kopfschütteln verursacht. Man hatte doch wenig Verständnis dafür, dass ich hier meine Stelle – eine sehr gute Stelle an der Kinder- und Jugendklinik in Datteln mit viel Potenzial – aufgegeben habe, um in den Entwicklungsdienst zu gehen. Bei der Rückkehr waren aber alle Türen für mich offen. Mein Chef ist auch direkt auf mich zugekommen. Ich habe aber für ein Jahr ein anderes Angebot einer Förderschule für geistige Entwicklung mit einem hohen Anteil an SchülerInnen aus arabischen Familien und danach eine Berufung an die TU Dortmund im Bereich Rehabilitationswissenschaften angenommen, wo ich u.a. auch den Lehr- und Forschungsbereich interkulturelle Kompetenz vertrete. In dem Sinne war die Rückkehr kein Abriss, ganz im Gegenteil: Ich konnte gut wieder an alte Kontakte und die früheren Strukturen im Hochschulbereich anknüpfen.

Junge Männer freuen sich über ihre Graduierung nach erfolgreichem Ausbildungsabschluss.

Hat sich Ihr Kompetenzspektrum durch den Entwicklungsdienst erweitert?

Ich habe Arabisch gelernt – und auch gelernt, mit anderen Ohren zu hören. Denn ich habe im jordanischen Alltag erfahren, was für die Menschen dort die „normale Kommunikation“ ist, die sich von der unseren auf Grund einer viel höheren Verflechtung von Personen- und Sachbezug sehr unterschiedet. Nun leben inzwischen hier in Deutschland viele geflüchtete syrische und irakische Familien.

Die Kompetenz, eben diesen kulturellen Unterschied in der Kommunikation verinnerlicht zu haben und in den persönlichen Begegnungen mit diesen Familien hier in Deutschland abzubilden, ist für mich extrem hilfreich. Das habe ich beispielsweise bei meiner Arbeit an einer Förderschule für ein Jahr direkt nach unserer Rückkehr mit vielen Kindern arabischer Herkunft anwenden können.

Solche interkulturelle Kompetenz kann man sich nicht anlesen, die muss man sich sozusagen „erleben“. Und ich baue nun hier an der Uni Dortmund einen neuen Lehr- und Forschungsbereich auf, in dem es um die interkulturelle Kompetenz für zukünftige Lehrkräfte an Förderschulen geht.

Wie sieht Ihre persönliche Bilanz nach fünf Jahren Entwicklungsdienst aus? Würden Sie anderen empfehlen, solch einen Schritt zu tun?

Ich sage meinen Studierenden stets: Auch dem Hauch einer inneren Regung, den üblichen beruflichen Weg, die Karriere, einmal anders zu deuten und etwas völlig Verrücktes zu machen, … diesem Hauch sollte man unbedingt nachgehen. Überall werden Lehrkräfte gebraucht. Hier werden sie verbeamtet und sind dann bis zur Pension fest abgesichert. Aber eine Zeit lang in einem anderen Land oder in einer anderen Kultur dem Gemeinwohl zu dienen, das kann unglaublich wertvoll sein – nicht nur für die Menschen vor Ort, sondern auch für sich selbst. Das ist mein Credo und auch meine Bilanz: Man muss den Schritt wagen und einmal herausspringen aus dem Normalen. Dabei kann man nur gewinnen.

Das Interview entstand im Rahmen der AGdD Verbleibstudie 2022 für die Publikation "Die Welt im Gepäck. Zurückgekehrte Fachkräfte aus dem Entwicklungsdienst der Jahre 2011-2022". Das Gespräch führte Dieter Kroppenberg. 

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